Auf Initiative der BOW-Mitglieder Helga und Michael Mönxelhaus möchte der Verein die Arbeit des Dortmunder Journalisten Dirk Planert in Bosnien unterstützen. Er versorgt Flüchtlinge, die in Bosnien und Herzegowina vor den Toren der EU stranden unter anderem mit Kleidung und Lebensmitteln. Ein von den Behörden illegal errichtetes Camp, in das diese Menschen abgeschoben wurden, ist mittlerweile geräumt. Nun irren viele von ihnen schutzlos in den Wäldern umher. Informationen für Spender (Verwendungszweck: Vucjak) gibt es hier.  Das Titelfoto dieses Beitrags hat Dirk Planert gemacht.

Helga und Michael haben zu dem Thema folgenden Bericht verfasst, der am 14. Dezember unter der Überschrift „Wir sind hier am Sterben“ im „Sauerlandkurier“ erschienen ist:

Kapitel 1: November

Die Stadt Bihac liegt im Nordwesten von Bosnien – direkt an der Grenze zum EU-Mitgliedsland Kroatien. Dorthin strömen Geflüchtete aus Afghanistan, Indien, Pakistan, Syrien und den Magrebstaaten. Die IOM (internationale Organisation für Migration) hat dort eine Flüchtlingsunterkunft in einer ehemaligen Fabrikhalle (Camp Bira, 1500 Menschen) eingerichtet, die aber schon lange nicht mehr ausreicht. Hunderte Geflüchtete wurden deshalb zu einer Mülldeponie – raus aus der Stadt – gebracht. Verletzte sogar dort abgeladen und sich selbst überlassen. Vucjak heißt dieser Ort.

Kein Dach, kein Wasser, keine Toiletten, einfach nichts – außer Methangas, das aus der Deponie entweichen soll, berichten Anwohner. Die Geflüchteten werden dort von Polizei bewacht, damit sie dortbleiben – quasi als Abschreckung für die, die noch kommen. Inzwischen sind es 1000, die dort „leben“, wobei die Nutzung des Wortes „leben“ zweifelhaft erscheint. In leerstehenden Häusern und unter freiem Himmel leben zusätzlich mehrere Tausend Menschen.

Dirk Planert, Journalist aus Dortmund, war am ersten Tag der Deportationen nach Vucjak (14.Juni 2019) eigentlich vor Ort, weil er eine Fotoausstellung in Bihac machen sollte. Er hat die Deportationen der Geflüchteten zur Mülldeponie an diesem und allen folgenden Tagen beobachtet. Zudem hat er Wunden verbunden, Essen gekauft und den Menschen zugehört. 20 Stunden Einsatz pro Tag. Seitdem versucht er, den Blick der EU und somit den Blick der Zuständigen auf diesen Ort zu lenken.

Das Rote Kreuz vor Ort hat einige wenige Zelte organisiert. Einige Helfer haben sich Dirk Planert angeschlossen, wobei sich Ärzte, Krankenschwestern, Sanitäter und medizinische Laien aus verschiedenen Ländern an ihren freien Tagen dieser Aufgabe annehmen. Viele sind gekommen, die sich das Elend angesehen haben. Fernsehberichte wurden in mehreren Ländern gezeigt.

Dirk Planert hat vor dem EU-Parlament in Brüssel eine Rede gehalten, um die Verantwortlichen wachzurütteln. Ohne Erfolg. Auf politischer Ebene passiert wenig, und das Wenige ohne Wirkung. Es fließen EU-Gelder in die Hauptstadt Sarajevo, kommen aber niemals in Bihac an. Kontrollen seitens der EU – nicht vorhanden. Im September wird es den Politikern in Bihac zu viel der Aufmerksamkeit. Sie verweisen alle Helfer des Landes, diese müssen wegen illegaler Hilfeleistung in Form von Wunden-Verbinden und Essen-Kaufen eine Strafe zahlen.

Auch die Bewohner von Bihac leiden unter dem gewaltigen Flüchtlingsstrom. Die Lage ist sehr angespannt. Auch sie wünschen sich endlich eine politische Lösung.

„Die EU schaut zu. Der Winter naht. Werden Menschen erfrieren?“

„The game“ bedeutet „das Spiel“. Jede Nacht verlassen Männer, Frauen, Kinder die Mülldeponie Vucjak, die erwähnte Flüchtlingsunterkunft oder ihren Platz unter freiem Himmel und versuchen durch unwirtliches Gelände das zwei Kilometer von Vucjak entfernte Kroatien zu erreichen. Handys helfen dabei, den Weg zu finden. Sie werden erwartet. Erwartet von der kroatischen Polizei, die die Außengrenzen sichern soll – alles von der EU bezahlt. Systematisch werden die Geflüchteten verprügelt und gefoltert, die Handys weggenommen oder zerstört, eventuell vorhandenes Geld wird ihnen abgenommen, ebenso die Schuhe. Dann werden sie zur Mülldeponie zurückgeschickt. Es gibt Tote.
Wieder zurück auf der Mülldeponie bekommen die geschundenen Menschen Hilfe von Dirk Planert und seinen Mitstreitern. Es werden Brüche geschient, Wunden verbunden: wunde Füße, Wunden der Folter. Wunden, die sich im Dreck der Mülldeponie ohne fließendes Wasser und sanitäre Anlagen kaum beherrschen lassen. Aber: „Das Spiel“ geht weiter. Manchmal „gewinnt“ jemand. Was für ein „Glück“ – sich weiter durchschlagen zu können nach Italien, Spanien oder Deutschland.

Uns als Verein erreichte die Beschreibung des Elends durch einen Bericht in der Süddeutschen Zeitung vom 19. November. Inzwischen hat auch Spiegel online berichtet sowie die NDR Weltbilder. An den Außengrenzen findet eine Grundrechtsverletzung seitens der EU statt. Die Menschen sagen den kroatischen Polizisten deutlich „Asyl“, welches nach dem Artikel 18 GRCH der europäischen Asylgesetzgebung gewährt werden müsste.

Die Deponie gleicht einem Flaschenhals, der manchmal Leute rauslässt. Aber: Viele kommen nach, mehr als „diese Flasche“ aushält. Die EU schaut zu. Der Winter naht. Werden Menschen erfrieren?

Dirk Planert, Rede in Brüssel: „Das Geld für den Schutz der EU-Außengrenze bringt nur eines: ein menschliches Leid, das ein zivilisiertes Europa nicht wollen kann. Dieses Europa ist nicht zivilisiert. Es fördert nicht Menschlichkeit – sondern das Gegenteil. Positiv ist der Schutz der EU-Außengrenze ausschließlich für Heckler und Koch, für kroatische Grenzpolizisten, die Flüchtlingen ihr Geld rauben, und für die Schlepper. Ein einziger Flüchtling bringt ihnen 1000 bis 5000 Euro. Ein gutes Geschäft.“

Doch sollen die Menschen ausharren, bis sie selbst an der Reihe sind, ermordet zu werden, wie Verwandte und Freunde? Also machen sie sich auf den monate- oder jahrelangen Weg Richtung Europa in der Hoffnung auf Frieden, Arbeit und ein normales Leben. Irgendwann stehen sie vor der Tür zum Ziel. Dann beginnt „das Spiel“.

Kapitel 2: Dezember

Am 5. Dezember berichtet der ORF, dass sich 600 Flüchtlinge im Lager Vucjak im Hungerstreik befinden, um auf die Lage aufmerksam zu machen: „Wir sind hier am sterben.“ Denn der Winter ist da, -5°C, erste Zelte sind unter Schnee begraben. Die Menschenrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatovic, ist vor Ort: „Ich habe noch nie so etwas Schlimmes gesehen.“ Sie fordert die sofortige Schließung.

Laut Deutschlandfunk vom 9. Dezember war der CSU-Bundestagsabgeordnete Schmidt mit Vertretern des Innenministeriums vor Ort und berichtet dem evangelischen Pressedienst: „Die Lage der Menschen widerspricht allen humanitären Vorstellungen in der EU.“ Der politische Druck nimmt zu. Ein langer Weg. Viele waren vor Ort. Viele haben Druck gemacht, aber erst musste der Schnee kommen. Am Abend des 10.Dezember erreicht uns die Nachricht, dass das Lager Vucjak geräumt wurde.

Alle Geflüchteten wurden in eine ehemalige Kaserne nahe Sarajevo gebracht, 225 Kilometer, fast sieben Stunden Busfahrt entfernt. Während der Aktion wurde weiträumig abgesperrt – damit kein Journalist Fotos machen konnte? Die neue Lage vor Ort erfordert ein Update der Informationen. Am 11. Dezember telefonieren wir mit Dirk Planert, er kauft gerade ein. Er bestätigt uns die Räumung und berichtet von seinem neuen Engagement. Natürlich bleibt er vor Ort. Denn kurz vor Bekanntwerden der Schließung von Vucjak haben sich noch schnell geschätzte 100 bis 200 Menschen auf den Weg durch den Schnee gemacht zum „Spiel“. Und wieder kommen die „Zurückgepushten“ ohne Schuhe zurück, nur diesmal verstecken sie sich in der Umgebung in den Wäldern – ohne Hilfe.

Dirk Planert und sein Team verstehen sich ab sofort als „mobiles Team“, kaufen morgens Nahrungsmittel und Kleidung, packen Allrad-Autos inklusive Autodach voll und fahren so drei Mal täglich die Landstraßen und Wälder ab. Das ehemalige Lager Vucjak soll planiert und angezündet werden.

Wie geht es wohl weiter? Dirk Planert beschreibt die Lage als unkalkulierbar. Werden sich die Menschen nach kurzer Erholung in Sarajevo wieder auf den Weg machen? Kommen neue Flüchtlinge? Schon im November war klar: Der Verein Building ONE World sammelt ab sofort Geldspenden. Wir haben die Hoffnung, dass es im neuen Jahr endlich zu angemessenen politischen Maßnahmen seitens der EU kommt. Aber mit Kontrollen, wo das Geld bleibt und wie es verwendet wird! Wenn derartige politische Maßnahmen ausbleiben, wird dann bald an der EU-Außengrenze überall geschossen?

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