Building ONE World unterstützt weiter Flüchtlinge in Bosnien an der EU-Außengrenze. Die Initatorin des Projekts, Helga Mönxelhaus, hält den Kontakt zu den Helfern vor Ort und berichtet unter dem Titel „Verzweifelte Suche: Wo ist die christliche Säule der EU abgeblieben?“ von der aktuellen Lage:
„Am 29.8. zeigt die Tagesschau seit langem mal wieder einen Bericht über die Situation der Flüchtlinge in Bihac in Bosnien an der EU-Außengrenze. Man sieht Flüchtlinge, die auf Gleisen sitzen. Warum? Ich telefoniere mit dem Journalisten Dirk Planert in Dortmund.
Zur Erinnerung: Planert war bis zur Corona-Krise als humanitärer Helfer vor Ort in Bihac. Im Dezember berichtete der Sauerlandkurier über das Flüchtlingslager Vucjak auf einer Mülldeponie in Bihac, es lag bereits Schnee, Flüchtlinge lebten dort in Zelten, vergessen von der Politik, versorgt von Dirk Planert, seinem Freund Zlatan und einem Team von Freiwilligen des Vereins SOS Bihac mit Hilfe von Spendengeldern. Auch BOW sammelte Spenden für Lebensmittel. Die Geflüchteten wurden schließlich kurz vor Weihnachten nach Sarajevo in feste Unterkünfte gebracht. Dirk Planert ist geblieben, hat nach der Schließung von Vucjak weitere zwei Monate geflüchtete Menschen im Grenzgebiet, im Gebirge gesucht, gefunden und versorgt – Tag und Nacht.
Dirk Planert musste das Land verlassen als Corona kam. Er sagt, dass sich aktuell 7500 bis 9000 Flüchtlinge im Land aufhalten, die Hälfte von ihnen ist obdachlos. Im Kanton Una-Sana (Nord-West-Bosnien, an der kroatischen EU-Außengrenze) befinden sich circa 6000 bis 7000 Geflüchtete. Zurzeit gibt es im ganzen Land verteilt fünf offizielle Camps, die aber nur halb besetzt sind. Warum? In einer Zoom-Konferenz, geleitet von der sächsischen Landtagsabgeordneten Petra Cagalj Sejdi mit Planert, erklärt sie folgendes: Die deutsche Botschaft sagt, dass die Flüchtlinge nicht dort untergebracht werden wollen – die freiwilligen Helfer vor Ort sagen, dass die Flüchtlinge nicht in die Camps rein dürfen. Zu diesen widersprüchlichen Aussagen berichtet t-online.de ganz aktuell am 1.10., dass die Polizei hunderte Geflüchtete von Bihac aus ins Camp Lipa gebracht hat. Dieses war überfüllt, die Neuankömmlinge mussten draußen schlafen. Es gab eine Schlägerei mit zwei Toten.
Planert berichtet, dass die bosnische Polizei mittlerweile hart gegen Flüchtlinge vor geht. Ihre Strategie im Kanton Una-Sana besteht aktuell darin, Flüchtlinge zu greifen, sie ins Auto zu verfrachten und entweder im Camp Lipa oder im Niemandsland (zwischen der sogenannten serbischen Republik und Bosnien) nahe des Dorfes Otoka an Bahngleisen auszusetzen. Diese Geflüchteten sind dann eingekesselt von Polizei. Man will die Menschen aus der Stadt raus halten. Und man will sie davon abhalten, die bosnisch-kroatische Grenze und damit die EU-Außengrenze zu erreichen. Seit über 2 Jahren führt die Hauptroute der Flüchtlinge über Bihac. Die Kleinstadt ist völlig überfordert und bekommt keine Hilfe von außen.
Niemand will die Flüchtlinge haben. Viele einheimische Bewohner organisieren sich in Bürgerwehren aktuell gegen die Flüchtlinge, es wird regelrecht Jagd auf sie gemacht. Ein Lehrer organisiert im Internet den Kampf gegen Flüchtlinge. Diese Lage eskaliert immer weiter. Die EU schaut zu. In der Tagesschau kommt Sanela Lepiriza zu Wort, eine mutige Frau, die den Flüchtlingen hilft. Wer Flüchtlingen hilft, wird selbst verfolgt, Name und Adresse werden im Internet veröffentlicht, so dass jeder gegen die Helfer vorgehen kann. Auch Dirk Planerts Mitstreiter Zlatan, dessen Ehefrau und ihre Familie werden angefeindet. Menschen mit dunklerer Hautfarbe zu helfen, das ist in Bosnien eine Straftat.
Laut Tagesschau fühlen sich die Einheimischen im Stich gelassen von ihrer Regierung und der EU, denn nirgends sind so viele Flüchtlinge wie im Kanton Una-Sana (weil die Grenze dort nah ist). EU-Gelder kommen in Una-Sana nicht an. Dirk Planert wirft im Zoom-Interview die Frage auf, warum die EU Gelder nach Sarajevo schickt, obwohl bekannt ist, dass das Land von Korruption beherrscht ist. Planert spricht von unfassbarer Naivität!
Es gibt Flüchtlinge, die dieser Verschleppung entgehen wollen und sich rechtzeitig in Wäldern verstecken. Einige versuchen ihr Glück, versuchen über die Grenze zu kommen. Dort stehen aber neben kroatischen Polizisten auch die Frontex-Grenzschützer, die von der Gewalt gegen die Flüchtlinge wenigstens wissen müssen. Mit Knüppeln werden Flüchtlinge verprügelt, ihr Hab und Gut wird verbrannt. Die Verletzungen, die Planert und sein Team versorgt haben, waren/sind folgende: Platzwunden am Kopf, gebrochene Nasen, geplatzte Trommelfelle, Blutergüsse, verletzte Füße, gebrochene Finger, Gehirnerschütterungen, … Verletzt und ohne Handy und Schuhe geht es zurück in die Wälder bis zum nächsten Versuch. Oder sie ertrinken in Flüssen. „The game“ wird dieses perverse System genannt. Dass die kroatischen EU-Grenzpolizisten seit über 2 Jahren Flüchtlinge illegal zurück pushen und die Flüchtlinge vorher verprügeln und ausrauben, das ist mittlerweile hundertfach belegt und lange bekannt. Regelmäßig kommen auch Schusswaffen zum Einsatz oder Polizeihunde werden auf die Menschen gehetzt. Über Tote, die in den Wäldern gefunden werden, erfährt man hier nichts.
Asyl in der EU zu beantragen, das ist fast unmöglich. Das ist eine Unmenschlichkeit, die nicht vereinbar ist mit der Menschlichkeit, die die EU darstellen will.
Planert und Zlatan hatten schon vor Corona ein eingespieltes Team von Helfern aufgebaut. So kann Zlatan mit einer Schar von circa 20 Freiwilligen (darunter drei Sanitäter), die das „Team SOS Bihac“ bilden, jeden Tag helfen. Es gibt zwei Fahrzeuge, einen Lada und einen VW-Bus (gespendet vom „Aachener Netzwerk für humanitäre Hilfe und und interkulturelle Friedensarbeit“), die werden jeden Tag neu vollgepackt werden mit Sanitätsmaterial, Lebensmitteln und Kleidung, dann werden die Gleise und Wälder abgefahren auf der Suche nach Flüchtlingen. Es kommen auch gezielte Hilferufe übers Handy. Aktuell werden 100 bis 600 geflüchtete und ausgesetzte Menschen täglich so versorgt. Stärker geworden ist jetzt die feindliche Gesinnung aus Teilen der einheimischen Bevölkerung. Das Team muss ständig aufpassen, nicht von den Einheimischen angegriffen zu werden.
Der von Planert und Zlatan aufgebaute Verein „SOS Bihac“ hat inzwischen gute Kontakte zu örtlichen Politikern geknüpft. Man hilft sich gegenseitig und ist anerkannt. Die dänische Hilfsorganisation DRC darf im Moment nicht mehr helfen. „SOS Bihac“ und Dirk Planert sind bekannt im Land. Dirk Planert hat vor über 20 Jahren im Krieg den Menschen dort geholfen und tut es jetzt wieder. Das wissen die Menschen, das bringt ihm einen „Joker“, einen Riesen-Vorteil.
Planert betont, dass er die Einheimischen gut verstehen kann, wenn sie sich von Tausenden von Geflüchteten „überrannt“ fühlen. Die Arbeitslosenquote in Bosnien ist hoch, es gibt kaum Sozialhilfe und Renten von nur wenigen Euro. Zusätzlich werden sie mit dem Flüchtlingsproblem allein gelassen und die EU schaut weg. Das Problem wird ausgeblendet und den Ländern überlassen, die an der EU-Außengrenze sind. Das erzeugt vor Ort Hass. Die EU gibt selbst den Auftrag, die Außengrenzen zu schützen und erzeugt massiv menschliches Leid. Sie finanziert 6000 kroatische Polizisten und Frontex-Grenzschützer, stattet sie mit Drohnen und Waffen aus. Die Geflüchteten, die kroatischen Boden betreten, bitten um Asyl. Das dürfen sie laut internationalem Recht, laut EU-Recht und laut Genfer Konvention. Aber: Die Grenzschützer ignorieren dieses Recht, misshandeln und foltern die Hilfesuchenden. Die EU – also wir – bezahlen das. Wir schlagen also die Menschen, die wir gebrauchen könnten: intelligente, arbeitsfähige, teamfähige, gesunde Männer, die bei uns in der Altenpflege fehlen. Stattdessen fährt unser Gesundheitsminister Spahn in den Kosovo und zieht dort medizinisches Personal ab (dort fehlt es dann). Planert ist empört: das ist moderner Kolonialismus!
Im Zoom Interview fragt die Landtagsabgeordnete: Was sollen wir, was soll die EU tun? Planert antwortet: Die EU soll sich an die Gesetze halten! Die Menschen haben das Recht, den kroatischen Polizisten zu bitten: „ Asyl“. Planert ergänzt: Wenn sich die EU nicht an die Gesetze hält, die sie selbst erlässt, so ist das kriminell. Die Abgeordnete will auch wissen: Wie geht es weiter? Planert gibt einen Ausblick: Das ist erst das Vorspiel! Wenn durch Klimawandel, Krieg und andere Katastrophen noch mehr Menschen flüchten müssen und in die EU wollen, was dann…? Zur Arbeit von SOS Bihac fragt sie noch: Ist das nicht ein Tropfen auf den heißen Stein? Planert antwortet: Wenn ich jemanden auffinde, der verletzt und ohne Schuhe und Essen vom „Game“ zurückkommt und ihm gebe, was er braucht, dann ist das nicht ein Tropfen auf den heißen Stein, sondern seine Rettung! Viele kleine Leute an vielen kleinen Orten …. helfen – die großen Hilfsorganisationen sind nicht da. Und: ich will, dass die Menschen Weihnachten mit gutem Gewissen in der Kirche sitzen können – was jetzt an unseren Außengrenzen passiert ist widerwärtig und verlogen – wir sind zur Zeit das Böse!
Aus Aachen kam am 11. September ein Kleidungstransport in Bihac an. Hier in Deutschland helfen viele Menschen in verschiedenen Städten dabei, „SOS Bihac“ am Laufen zu halten. Denn die Beladung der Autos mit den Hilfsgütern kostet jeden Tag.
Auch wir vom Verein Building ONE World wollen „SOS Bihac“ weiter unterstützen. Wir wollen mit dafür sorgen, dass die geschundenen Geflüchteten Lebensmittel, Verbände etc. bekommen. Bitte helfen Sie mit, dieses gut aufgebaute Netzwerk an direkter Hilfe zu unterstützen, indem Sie spenden (Verwendungszweck: „Bosnien – Flüchtlingshelfer“). Jeder Euro kommt an.
Nachdem Dirk Planert mir all die neuen Entwicklungen geschildert hat, will ich natürlich wissen, wie es bei ihm weitergeht. Er arbeitet nicht mehr als Journalist. Stattdessen hat er einen zielgerichteten Plan: Er macht eine Ausbildung zum Rettungssanitäter Notfallmedizin. Danach will er in diesem Bereich in Deutschland arbeiten, Erfahrungen sammeln. Er will Sicherheit gewinnen in den Abläufen von Notfällen, Handlungssicherheit. Warum? Dann will er wieder dorthin gehen, wo er gebraucht wird in der Welt, denn – so seine Worte: „Das Elend wird uns nicht ausgehen!“
Neben dem Lernen arbeitet er weiter daran, Menschen aufzuklären über die Dinge vor Ort in Bosnien, er knüpft weiter Kontakte, sammelt Spenden. Vor kurzem war er eingeladen in die Philharmonie Köln zu einer Diskussionsrunde. In Kürze berichtet „Arte“ aus Bihac. Auch BOW will die Menschen in Bihac nicht aus den Augen verlieren und bleibt dran, am Leid dieser Geflüchteten an der Außengrenze unserer Europäischen Union.
Wer sich weitergehend informieren möchte, kann im Internet folgende Reportagen ansehen: „Vergessene Flüchtlinge – Verzweifelte Lage in Bosnien-Herzegowina“ der Sendung Fakt vom 18.3.2020 oder „Flüchtlinge in Bosnien: Warten in leeren Fabriken“ von euronews vom 11.2.2020. In dieser Reportage sieht man Zlatan Kovacevic bei seiner Arbeit. Nicht zuletzt bekommt man weitere Informationen und Videos über das „Aachener Netzwerk“.
Die angehängten Fotos sind vom Sommer, jetzt ist es in Bosnien genauso kalt wie hier!“